Die Custodi dei Riflessi

Die Stadt war ein Gerücht. Eine Hülle. Die einzig wahre Substanz lag auf dem Wasser. Jede Welle, jede Kräuselung war ein Riss in der Realität, ein Fehler, der ausgemerzt werden musste. Die Gebäude waren nur die leeren Gerüste, an denen das Kapital hing: ihre makellose, ruhige Spiegelung.

Doch das Kapital schwand.

Die Reflexionen begannen zu zerfasern. Ein Turm wurde durchsichtig. Die Farbe blutete aus den Fassaden und hinterließ im Wasser nur noch graue Wunden. Die Stadt vergaß sich selbst.

Die Kanäle der Stadt sind nicht mit gewöhnlichem Wasser gefüllt. Sie sind flüssige Zeit, ruhig und klar, die jede Fassade, jeden Schornstein und jeden blühenden Baum mit makelloser Präzision widerspiegeln. Diese Spiegelbilder sind jedoch mehr als nur Reflexionen; sie sind die Seele der Stadt. Solange die Spiegelbilder klar sind, lebt die Stadt.

Hier lebt Elio. Er ist kein gewöhnlicher Gondoliere. Seine Familie gehört seit Generationen zu den Custodi dei Riflessi, den Hütern der Spiegelbilder. Jeden Morgen, bevor der erste blasse Lichtstreifen den Himmel färbt, gleitet er in seiner flachen, hölzernen Barke durch die schlafenden Kanäle. Seine Aufgabe ist es nicht, Passagiere zu befördern, sondern die Stille zu bewahren. Mit sanften Stößen seines Ruders glättet er jede noch so kleine Welle, die die Perfektion der Spiegelbilder stören könnte. Er sorgt dafür, dass die Erinnerungen, aus denen die Stadt besteht, nicht verzerrt oder getrübt werden.

Ähnliche Beiträge