Das gemalte Haus
Man munkelte, das Haus sei nicht gebaut, sondern gemalt worden. Schicht um Schicht trug ein vergessener Künstler Emotionen auf die Wände auf, bis sie in einem fiebrigen Grün erstrahlten, durchzogen von Adern aus schimmerndem Gold. Und aus dieser Farbexplosion heraus blickten sie: vier Gesichter, keine bloßen Porträts, sondern eingefangene Seelen, die auf den Putz gebannt waren.
Die erste Seele (Bild 1) war eine schlafende Königin, ihre Krone ein filigranes Gebilde aus Schatten. Sie ruhte hinter Stapeln von Tellern, als hätte sie sich von einem Festbankett zurückgezogen, um in den Träumen vergangener Zeiten zu schwelgen. Ihre geschlossenen Lider verbargen Welten – eine stille Melancholie, die sich wie Staub auf das Gold der Säule neben ihr legte. Sie war der Nachhall von Eleganz, der leise Seufzer nach verklungener Musik.

Im großen Salon (Bild 2), wo das Licht des Kronleuchters wie gefrorene Tränen hing, wachte die Neugierige. Ihre Augen, weit und grün wie der Raum selbst, schienen nicht nur die Anwesenden zu mustern, sondern durch sie hindurch auf etwas Dahinterliegendes zu blicken. Sie war die Verkörperung des ungestillten Verlangens nach Verbindung, die stumme Frage nach dem Sinn hinter den Masken, die man zu Tisch trug. Ihre Präsenz war intensiv, fast fordernd, als warte sie auf eine Antwort, die nie kam.

Der schmale Gang (Bild 3) war der Spielplatz der Kontraste. Zwei grafische Fratzen, kindlich und doch unheimlich, flankierten den Weg. Eine grinste herausfordernd, mit roten Wangenflecken wie Fieberröte, die andere schien in einem tiefen, undurchdringlichen Traum gefangen. Sie waren die Dualität des Lebensweges – der laute Scherz und der stille Zweifel, die durch die Korridore der Existenz hallten und jeden Passanten fragten: Welches Echo bist du?

Und im Herzen des Hauses, der Küche (Bild 4), manifestierte sich die Alchemistin. Schwebend über dem Ort der Transformation, wo aus Rohmaterial Nahrung und Trost wurde, trug ihr Antlitz die Züge ferner Länder und alter Weisheit. Ihr Lächeln war ein feiner Pinselstrich zwischen Wissen und Geheimnis. Sie kannte die Rezepte des Lebens, die bitteren und die süßen Zutaten, und wachte über den ewigen Prozess des Werdens und Vergehens, ein stiller Pakt zwischen Kunst und Alltag.

Wer in diesem Haus lebte, wohnte nicht allein. Die Leinwandseelen waren ständige Begleiter. Sie sprachen nicht, aber sie atmeten mit den Wänden. Sie waren keine Geister im herkömmlichen Sinn, sondern die geronnene Essenz von Gefühl – die Trauer der Königin, die Suche der Neugierigen, das Spiel der Kontraste, die Weisheit der Alchemistin. Sie waren die Kunst, die lebendig geworden war, und erinnerten jeden Bewohner daran, dass auch sie nur Farbe auf der großen Leinwand des Lebens waren, wartend darauf, gesehen zu werden.